Enttäuschungsverarbeitung. Der bittere Weg in eine andere Weltordnung und die mögliche Rolle Europas dabei ​

Herfried Münkler (Wien, 23.11.2022)

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Die Vorstellung einer regelbasierten, auf Werten begründeten und von Normen getriebenen Weltordnung, einer Ordnung, die mehr auf wirtschaftlicher denn militärischer Macht beruhen und in der strittige Fragen von internationalen Schiedsgerichten geklärt werden sollten, war den Europäern wie auf den Leib geschneidert. Sie entsprach nicht nur ihren Vorstellungen von einer friedlichen Zukunft, sondern korrespondierte auch den Fähigkeiten, über die sie verfügten. Demgemäß nötigte sie die Europäer auch nicht, Ressourcen aufzubauen und Kompetenzen zu entwickeln, die sie nun einmal nicht hatten. Das erklärt, warum die EU-Europäer – mit Ausnahme der baltischen Staaten und Polens – bis zuletzt, bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar diesen Jahres, an diesem Weltordnungsentwurf festhielten und darauf setzten, dass Putin nicht so dumm sein würde, die Ukraine zu überfallen. Damit nämlich würde er den Westen zwingen, wirkliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen und sich nicht länger auf weitgehend symbolische Sanktionen zu beschränken, wie das 2014 nach der russischen Annexion der Krim und der Schaffung der Separatistengebiete im Donbass der Fall war. Russland würde dann, so dürften die im Januar und Februar nach Moskau geeilten europäischen Politiker gegenüber Putin argumentiert haben, zu einer wirtschaftlich weitgehend von China abhängigen Größe werden –, und das könne doch kaum in Putins Interesse liegen. Es war dies eine Argumentation, deren Rationalität wesentlich durch den von den Europäern präferierte Weltordnungsentwurf geprägt war, einen Entwurf, von dem man annahm, dass er in Europa schon weithin Wirklichkeit geworden sei, eine Ordnung von Regeln und Werten eben, in der neben den Vorgaben des Völkerrechts ökonomisch geprägte Kalküle den Ausschlag geben sollten.

Es ist anders gekommen. Zwar gibt es nach wie vor eine Reihe von Politikern, die der Auffassung sind, man dürfe sich durch den Ukrainekrieg diesen Weltordnungsentwurf nach dem Motto „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ nicht kaputtmachen lassen und könne nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges wieder zu dem Modell einer auf Recht und wirtschaftlicher Macht gegründeten internationalen Ordnung zurückkehren. Aber mit jedem Tag, den der Krieg in der Ukraine fortdauert und die Anwendung militärischer Gewalt seitens des russischen Militärs eskaliert, zuletzt etwa durch die systematische Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur für Trinkwasser, Strom und Fernwärme, wird diese Rückkehrvorstellung mehr und mehr zur Illusion. Auch nach einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand wird Russland eine revisionistische Macht sein, die bei nächstbester Gelegenheit versuchen könnte, ihre Ziele im Schwarzmeerraum doch noch mit Waffengewalt zu erreichen. Und auf der Gegenseite wird die Ukraine bestrebt sein, den Status von vor 2014 wiederherzustellen, also auch die Annexion der Krim rückgängig zu machen und den Donbass wieder vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Währenddessen werden die Europäer dafür Sorge tragen müssen, dass die Waffenruhe aufrechterhalten bleibt und die Transportschiffe mit Getreide oder Speiseöl einigermaßen sicher das Schwarze Meer befahren können. Um das sicherzustellen, dürfte es mit gutem Zureden kaum getan sein. Währenddessen werden sich die USA aus der europäischen Sicherheitspolitik, in die sie während des Ukrainekrieges zurückgekehrt sind, wieder zurückziehen, so dass die Pazifizierung des gewaltigen Raumes vom Kaukasus bis zum Westbalkan mit dem Schwarzen Meer im Zentrum und der Ukraine im Norden sowie der Türkei mitsamt ihren zahlreichen Konflikten im Süden eine Herausforderung sein wird, der sich im Wesentlichen die Europäer zu stellen haben. Sie sollten schon jetzt damit beginnen, sich darauf einzustellen. Das heißt: Verabschiedung von der bis vor kurzem gehegten Weltordnungsvorstellung, eine geopolitische Bestandsaufnahme mit dem Ziel, die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu beschreiben, um die Voraussetzungen zu schaffen, ihnen gewachsen zu sein, und vor allem eine Selbstverwandlung der Europäischen Union aus einem Regelbewirtschafter in einen politisch handlungsfähigen Akteur. – Das ist dann produktive Enttäuschungsverarbeitung.

Vom Scheitern eines großen strategischen Projekts

Im Rückblick ist häufig von der Naivität die Rede, der die meisten europäischen Politiker während der letzten zwei Jahrzehnte gefrönt hätten, oder es werden die Metaphern des Schlafs und des Traums verwendet, in denen sich die europäische Politik gewiegt habe. Mit einem Mal wollen es fast alle, Politiker wie Journalisten, Wissenschaftler wie Publizisten, schon immer gewusst haben, dass das Projekt des „Frieden Schaffens mit immer weniger Waffen“ scheitern werde und dass ihm angehangen zu haben eine Form von Lagevergessenheit und eben Naivität gewesen sei. Was jetzt stattfinde, sei ein „Erwachen in der Wirklichkeit“. Ich will statt dessen zeigen, dass hinter der Politik der letzten zwanzig Jahre eine große Idee und ein strategischer Plan standen, die freilich gescheitert sind. Und dass die Metapher des Erwachens eine Verharmlosung der Herausforderungen ist, vor denen die Europäer jetzt stehen, denn diese Herausforderungen laufen auf eine gänzlich andere Weltordnung und eine grundlegend andere Strategie der Friedenssicherung hinaus. Am Anfang der Bearbeitung dieser Herausforderung steht die bereits angesprochene Enttäuschungsverarbeitung, und die ist sehr viel anstrengender und aufwändiger sein als ein Erwachen aus Schlaf oder Traum.

Auf den ersten Blick kam das Vorhaben, die Weltordnung wesentlich auf wirtschaftliche und nicht, wie in der Vergangenheit, auf militärische Macht zu gründen, ausgesprochen realistisch daher. Der Aufbau militärischer Macht läuft nämlich immer auf unproduktive Ausgaben hinaus, auf die Anschaffung und Pflege von Waffensystemen, von denen zugleich angenommen wird, dass sie nie zum Einsatz kommen sollen. Wirtschaftliche Macht dagegen ist gleichbedeutend mit Wohlstand, sie befriedet Gesellschaften in ihrem Innern, und wenn sie obendrein zur Verhaltensbeeinflussung äußerer Mächte eingesetzt werden kann, werden gewissermaßen „zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“. Das ist praktisch und kostengünstig: ein Regulationssystem, das nicht auf militärischer Gewalt, sondern auf einer Kombination von ökonomischen Gratifikationen und Sanktionen beruht. Wenn man dabei das Übergewicht der wirtschaftlich Mächtigen noch begrenzt, indem man diese einer Rechtsordnung mit Regeln und Schiedsgerichten unterwirft, um die Schwachen zu schützen, hat man obendrein auch noch dem Imperativ der ausgleichenden Gerechtigkeit Genüge getan. 

Eine solche Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges als „work in progress“ angesehen werden konnte, war zweifellos das Beste, was man sich realistischerweise als globale Ordnung vorstellen konnte. Obendrein wurden mit der schrittweisen Ersetzung militärischer durch wirtschaftliche Macht jene Ressourcen verfügbar, die man brauchte, um die großen Menschheitsaufgaben des 21. Jahrhunderts angehen zu können: die Begrenzung von Klimawandel und Artensterben, die Bekämpfung des Hungers im globalen Süden und die Entschleunigung der globalen Migrationsbewegungen. Aus dem rhetorischen „Wir“ der Menschheit sollte ein reales, handlungsfähiges, gestaltungsmächtiges „Wir“ werden. Man kann nachvollziehen, warum viele das Scheitern dieser Weltordnung nicht wahrhaben wollen und ihr in melancholischer Bedachtsamkeit weiter anhängen oder in cholerischem Trotz darauf bestehen, man müsse nur den Ukrainekrieg beenden, um das Vorhaben wieder aufgreifen und weiterverfolgen zu können. Doch weder Melancholie noch Zorn und Trotz ändern etwas daran, dass dieser Weltordnungsentwurf gescheitert ist und für lange Zeit nicht mehr auf der politischen Agenda steht. Aber woran ist er gescheitert? Nur an Putin? Nur am Ukrainekrieg?

Die vielfältigen Ursachen für das Scheitern des kostengünstigen Weltordnungsprojekts

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Rolle des Hilflosen, die den Vereinten Nationen seit Beginn dieses Krieges zugefallen ist, sind Vorgänge, die das Scheitern des Weltordnungsprojekts „Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen“, sichtbar und sinnfällig gemacht haben. Keiner kann seitdem mehr sagen, das Projekt komme zwar nicht so voran, wie man sich das eigentlich vorgestellt habe, aber man dürfe es nicht aufgeben, nur weil zeitweilig ein scharfer Gegenwind herrsche. Statt dessen ist festzuhalten: Einmal mehr haben sich die Vereinten Nationen als zu schwach erwiesen, um ihre Prinzipien und Werte zur Geltung zu bringen, und selbst beim Zustandekommen des Abkommens über Getreideausfuhren auf dem Seeweg durch das Schwarze Meer hat die Türkei eine wichtigere Rolle gespielt als die Vereinten Nationen. Gerade den Vereinten Nationen war in dem beschriebenen Weltordnungsprojekt eine zentrale Rolle zugefallen. Um diese Rolle annähernd wahrnehmen zu können, hätte die Weltorganisation aber grundlegend reformiert werden müssen. Insbesondere bei den Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats wäre den seit 1945 eingetretenen Veränderungen der Weltbevölkerung Rechnung zu tragen gewesen, und auch das Vetorecht hätte dahingehend verändert werden müssen, dass es nicht länger als Instrument der Selbstblockade genutzt werden kann. Aber alle Anläufe zu einer solchen Reform sind im Sand verlaufen, und es ist nicht erkennbar, dass sich hier noch etwas bewegen lässt. Erst recht nicht nach diesem Krieg. Mit der Weltorganisation wird man nicht rechnen können.

Eine auf Regeln und Werten begründete Weltordnung bedarf jedoch eines „Hüters“, einer Macht, die darauf achtet, dass die Regeln eingehalten und die Werte respektiert werden. Dafür hätte es einer starken Weltorganisation bedurft, die politisch handlungsfähig war, aber das war eher die Ausnahme als der Normalfall. Infolgedessen haben in den letzten drei Jahrzehnten die USA die Rolle eines Hüters der globalen Ordnung eingenommen, doch von Somalia bis Afghanistan haben sie sich dabei nicht sonderlich geschickt angestellt, sind immer wieder in den Verdacht geraten, eher ihre eigenen Interessen als Weltmacht zu verfolgen denn die der Weltgemeinschaft, und schließlich sind ihnen die Lasten und Kosten der Hüterposition zu groß geworden, und sie haben sich demonstrativ aus dieser Rolle verabschiedet. „America first“, lautete die von US-Präsident Trump dafür ausgegebene Formel. Sinnfällig wurde die Verabschiedung aus der Hüterrolle mit dem Abzug der US-amerikanischen Truppen und der ihrer Verbündeten im Sommer 2021 aus Afghanistan mitsamt den erschütternden Szenen vom Flughafen in Kabul, als verzweifelte Menschen sich an die zum Start rollenden Flugzeuge klammerten. Dieser Abzug fand zwar bereits unter Trumps Amtsnachfolger Biden statt, doch auch der konnte und wollte die Abzugsentscheidung nicht rückgängig machen. Auch die US-Demokraten haben sich also aus der Rolle eines Hüters der globalen Ordnung verabschiedet und verfolgen nun eher ihre eigenen geostrategischen Interessen als dass sie sich die Pflichten eines Hüters der globalen Ordnung aufbürden lassen. Eine Ordnung der Regeln und Werte hat jedoch keinen Bestand, wenn ihr der Hüter fehlt. Eine Alternative zu den USA ist indes nicht in Sicht: die Europäer sind dafür untereinander nicht einig genug, und die Chinesen, die ja zeitweilig als Nachfolgemacht der USA gehandelt wurden, haben andere Interessen, als sich durch globale Aufgaben in Anspruch nehmen zu lassen.

Die regelbasierte und auf Werte gestützte Weltordnung sollte die Bildung von Einflussgebieten durch die großen Mächte überflüssig machen, und zwar durch den freien Zugang zum Weltmarkt und die Bildung globaler Handelsketten, die an die Stelle einer politischen und notfalls auch militärischen Kontrolle von rohstoffreichen Einflussgebieten durch die großen Mächte treten sollten. Nun haben sich die globalen Handelsketten bereits während der jüngsten Pandemie als erheblich störungsanfällig erwiesen, der freie Zugang zum Weltmarkt ist obendrein durch die westlichen Wirtschaftssanktionen konterkariert worden, und die Entkoppelung der westeuropäisch-atlantischen Wirtschaftskreisläufe vom russischen Wirtschaftskreislauf hat die Vorstellung von Interessen- und Einflussgebieten, aus denen verlässlich Rohstoffe und Energieträger bezogen werden, wieder attraktiv werden lassen. Vor allem aber hat China im Rahmen seiner Seidenstraßenstrategie seit längerem schon auf die Herstellung von Einflussgebieten gesetzt und dabei große Räume in Zentralasien und Afrika in seine Abhängigkeit gebracht. In der Folge haben auch andere unter dem Eindruck eines drohenden Ausschlusses von dringend benötigten Rohstoffen beziehungsweise der Bildung politisch kontrollierter Kartelle ihrerseits mit der Sicherung von Einflussgebieten begonnen. Darüber ist eine Konkurrenz entstanden, die ein erhebliches Konfliktpotential enthält, was in einer regelbasierten, auf Werte gestützten und von einem globalen Markt getragenen Weltordnung gerade hatte vermieden werden sollen. Aber sobald einer der relevanten Akteure mit der Inanspruchnahme von Einflussgebieten beginnt, setzt er eine Dynamik in Gang, der die anderen nicht tatenlos zusehen können.

Nun hat China im Rahmen seiner Seidenstraßenstrategie vor allem fiskalische Macht eingesetzt, um Einflussgebiete zu schaffen. Etwas vergleichbares war den Russen nicht möglich, denn in deren Portfolio der Machtsorten ist wenig fiskalische, wirtschaftliche und kulturelle Macht vorhanden, durchaus aber militärische Macht, auf die Putin glaubte setzen zu können, als sich die Ukraine seit den beiden Maidan-Bewegungen zunehmend dem russischen Einfluss zu entziehen begann. Die Wiederherstellung des Imperiums, sei dieses nun am Territorium der einstigen Sowjetunion oder an dem des alten Zarenreichs orientiert, konnte also nur durch den Einsatz von Gewalt vorangetrieben werden. Aus der Distanz betrachtet, ist das eher ein Ausdruck der Schwäche als der Stärke Russlands. Aber das ändert nichts daran, dass dies der schwerwiegendste und folgenreichste Bruch mit dem Projekt einer auf Frieden und Prosperität ausgerichteten Weltordnung war. Auch hier gilt, dass das Agieren eines Einzigen folgenreich ist für das aller Anderen.

Bleibt noch die Frage zu beantworten, warum bei Beginn des russischen Angriffskriegs die Instrumente der wirtschaftlichen Macht, die ja als Mittel der Eindämmung potentiell revisionistischer Akteure an die Stelle der militärischen Gewalt getreten waren, nicht gegriffen haben, weder als Abschreckungsmittel noch zwecks einer relevanten Einschränkung der Kriegführungsfähigkeit des Angreifers. Offenbar ist eine elementare Voraussetzung des Systems der wirtschaftlichen Macht, dass die verantwortlichen Politiker der großen Mächte kalkülrationale Akteure sind, die ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Bilanzen treffen. Ist nur einer unter ihnen, der von Ressentiments getrieben ist, etwa weil er an imperialen Phantomschmerzen leidet und, koste es, was es wolle, den Status quo verändern will, so greift die wirtschaftliche Macht nicht, weil die wirtschaftliche Bilanz in seinen Entscheidungen von Erinnerungsnarrativen an einstige Macht und Größe überlagert ist. Und das ist erst recht der Fall, wenn bei einem Großteil der Bevölkerung ähnliche Dispositionen vorherrschen.

Dazu kommt ein „time lag“, ein gegenüber militärischer Gewalt verzögertes Wirksamwerden wirtschaftlicher Macht, das bei dem, der sich des Militärs bedient, die Vorstellung aufkommen lässt, er könne mit einem kurzen und räumlich begrenzten Krieg vollendete Tatsachen schaffen, die nach einiger Zeit, weil die Gegenseite sie kurzfristig ohnehin nicht revidieren könne, von der Weltgemeinschaft irgendwie schon hingenommen werde. Wahrscheinlich hat das vorsichtige und zurückhaltende Agieren des Westens nach der Krimannexion Putin in der Auffassung bestärkt, derlei könne auch bei der Übernahme der gesamten Ukraine oder doch bei der Annexion der Gebiete links des Dnipro gelingen, zumal der Westen bei nachhaltigen Sanktionen gegen Russland davon ebenfalls wirtschaftliche Nachteile haben werde.

Darin hat Putin sich verkalkuliert, denn weder hat das russische Militär innerhalb weniger Tage die gesamte Ukraine besetzen können noch hat der Westen darauf verzichtet, nachhaltige Sanktionen gegen Russland zu verhängen, und vor allem hat der erfolgreiche Widerstand der ukrainischen Streitkräfte den westlichen Ländern die Möglichkeit verschafft, das ukrainische Militär durch entsprechende Waffen- und Munitionslieferungen so zu ertüchtigen, dass es der russischen Übermacht nicht nur standgehalten hat, sondern diese inzwischen auch zurückzudrängen vermochte. Kurzum: der Westen erhielt die Gelegenheit, den Einsatz wirtschaftlicher Macht durch die Bereitstellung militärischer Macht zu ergänzen oder zu ersetzen, und das lief auf eine grundlegende Revision der bis dahin verfolgten sicherheitspolitischen Strategie hinaus. Einige Politiker haben sich gegen diesen Strategiewechsel gesträubt, weil sie retten wollten, was doch nicht mehr zu retten war. Immerhin: es ist eine überaus bittere Erfahrung, dass ein einziger zu demolieren vermag, was von vielen in konstruktiver Kooperation aufgebaut wurde.

Das neue System der Fünf

Ohne Hüter hat die Weltordnung der Regeln und Werte keine Glaubwürdigkeit, und seit dem russischen Drohen mit einer nuklearen Eskalation ist auch die Hoffnung auf eine weitreichende Verringerung der Atomwaffen dahin. Im Gegenteil: in Anbetracht der jüngsten Erfahrungen mit Krieg und Gewaltandrohung ist eine neue Runde bei der Proliferation von Atomwaffen zu befürchten. Militärische Macht wird wieder eine deutlich größere Rolle spielen, die Sicherung des Friedens vom Westbalkan bis zum Kaukasus unter Einschluss der Ukraine wird erhebliche Ressourcen verschlingen, und all das hat zur Folge, dass die Europäer den Höhepunkt ihres Wohlstands für lange Zeit überschritten haben dürften. Zusammengefasst: der Erwartungshorizont, den wir noch zu Beginn des Jahres vor uns hatten, hat sich in Nichts aufgelöst, und allmählich entwickelt sich ein neues Modell der Weltordnung, das derzeit freilich erst in Umrissen erkennbar ist. Es handelt sich um eine Ordnung von fünf großen Mächten, die nach den Grundsätzen von Gleichgewicht und Übergewicht aufeinander einwirken. An die Stelle einer normativen Grundierung der Weltordnung tritt dabei eine eher mechanische Struktur ohne universelle Werte und Normen, die freilich den Vorzug hat, auf keinen Hüter angewiesen zu sein, sondern nur einer Macht bedarf, die als „Zünglein an der Waage“ für ein tendenzielles Gleichgewicht der großen Akteure zu sorgen hat. Das ist weniger anspruchsvoll und sehr viel leichter zu handhaben als die verwaiste Hüterrolle.

Wer werden diese fünf Mächte sein? Mit Sicherheit die USA und China, was dann auch heißt, dass es nicht zu der von Vielen prognostizierten Ablösung des amerikanischen durch ein chinesisches Zeitalter kommen wird, sondern zu einer Balance beider Mächte. Weiterhin sind als die jeweiligen Juniorpartner Chinas und der USA Russland und die Europäische Union zu nennen, wobei Russland diesen Platz nur ob seiner Atomwaffen plus Trägersystemen und seiner geopolitischen Lage als nordasiatische Landbrücke vom östlichen Rand Europas bis zum Pazifik beanspruchen kann. Wirtschaftlich wird es von China als eine Art von Rohstoffkolonie abhängig sei. Die EU-Europäer wiederum werden vom nuklearen Schutzschirm der USA abhängig sein, wirtschaftlich aber eher selbstständig auftreten und, wenn es ihnen gelingt, in höherem Maße ein politischer Akteur zu werden, als sie das zurzeit sind, und auch in politischer Hinsicht über eine gewisse strategische Autonomie verfügen. All das wird freilich von der politischen Weiterentwicklung der EU in der nächsten Zukunft abhängen, und daran wird sich auch entscheiden, ob die Europäer bei Aufbau und Ausgestaltung der neuen Weltordnung eher Objekt oder Subjekt des Geschehens sein werden. Das gescheiterte normative Weltordnungsprojekt kam der EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung weit entgegen; für die jetzt im Entstehen begriffene Weltordnung eines auf diversen Machtsorten beruhenden Gleichgewichts werden die Europäer sich anstrengen müssen, den damit verbundenen Anforderungen zu genügen. Schaffen sie das, können sie eine gewichtige Rolle spielen. Die fünfte Macht dieses Systems dürfte im übrigen Indien sein, und ihm wird wahrscheinlich auch die Rolle eines Züngleins an der Waage zufallen.

Solche auf die Mechanik der Macht gegründeten Fünfersysteme sind uns aus der europäischen Geschichte vertraut, wo sie vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine Ordnung bildeten, die einerseits Kriege in Grenzen hielt, andererseits aber Kriege auch nutzte, um das Gleichgewicht immer wieder neu zu balancieren. In der Regel sind diese Fünfersysteme durch Zweierkonstellationen geprägt, bei deren Zustandekommen geostrategische, aber auch verfassungspolitische und sozialstrukturelle Aspekte eine Rolle spielen. So ist mit einer Allianz der liberaldemokratischen Rechtsstaaten, also bestehend aus den Nordamerikanern, den Europäern und einigen anderen, auf der einen Seite zu rechnen, und den autoritären Regimen, wie Russland und China, auf der anderen Seite. Aber dies werden, vermute ich, keine allzu festen und starren Allianzen sein, sondern es dürften sich immer wieder entlang bestimmter Fragen auch Querkoalitionen bilden, die eine erhebliche politische Beweglichkeit ermöglichen. Und bei all dem werden immer wieder auch Allianzen mit denjenigen Staaten eine Rolle spielen, die nicht zu der beschriebenen Pentarchie gehören: denen in Südostasien und in Lateinamerika, in Afrika und in der islamischen Welt, und wenn ich recht sehe, hat das Ringen um deren jeweiligen Unterstützung schon jetzt begonnen. Effektive Enttäuschungsverarbeitung läuft darauf hinaus, sich auf diese Neuformatierung der globalen Konstellationen so schnell wie möglich einzustellen.

Dieser Artikel wurde bereits im Standard veröffentlicht.

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